Am 30. November 1998 fiel der Entscheid der Schweizer Regierung zugunsten der Konzerne ABB Schweiz und Sulzer Hydro. Ihr Antrag auf Gewaehrung einer Exportrisikogarantie (ERG) in der Hoehe von fast einer halben Milliarde Schweizer Franken fuer den Bau des Ilisu-Staudammes im kurdischen Suedosten der Tuerkei wurde deutlich gutgeheissen. Bewogen dazu haben sie die Zusagen der tuerkischen Regierung ueber "Abfederungsmassnahmen" bei den oekologischen Auswirkungen und den notwendigen Umsiedlungen in der Folge des Projektes. Durch das Stauen der Fluesse wird die Wasserqualitaet verschlechtert und Krankheiten wie Malaria werden wieder aufkommen. Bis zu 20'000 Menschen muessen ihr Land verlassen; dazu kommen der behauptete, erhoehte Energiebedarf der Tuerkei und gesicherte Arbeitsplaetze in der Schweiz. Wuerde die Tuerkei allerdings in die Wartung ihrer bestehenden Anlagen investieren, gewaenne sie 4.5 mal mehr Strom als Ilisu je produzieren wird.
30. Januar 1984. Am Davoser Management-Symposium, dem heutigen "World Economic Forum", verkuendete der damalige und inzwischen verstorbene tuerkische Ministerpraesident Turgut Oezal, dass ein Schweizer Konsortium unter der Fuehrung von Sulzer Hydro Escher Wyss den Auftrag erhalten werde, fuer eines der groessten Wasserkraftwerke der Welt zu arbeiten. Die Finanzierung des Atatuerk-Staudammes uebernahm die SBG (heute: UBS), unter der Bedingung der Gewaehrung einer ERG. Auch damals wurde sie trotz starker Opposition bewilligt. Nicht zuletzt dank des Einsatzes des damaligen SMUV-Praesidenten Fritz Reimann, dem ein paar Schweizer Arbeitsplaetze wichtiger waren als die vertriebenen 55'000 zumeist kurdischen Kleinbaeuerinnen und Kleinbauern. Viele von ihnen kamen als Asylsuchende in die Schweiz, wo sie als "Wirtschaftsfluechtlinge" denunziert, bald wieder ausgeschafft wurden.
Die tuerkische Republik versteht sich seit seiner Gruendung von 1923 (Lausanner Vertrag) als ein Staat mit einem Staatsvolk. Kurdinnen und Kurden existieren nicht, nur "BergtuerkInnen". Folge war von Anfang an eine Repression gegen kurdische Menschen, die sich ihrer Zwangsassimilierung widersetzten. Ende der 70er Jahre entstand das erste Mal seit 40 Jahren wieder eine starke kurdische Bewegung, die durch den Militaerputsch 1980 fast ganz zerschlagen wurde. Die Tuerkei glich einem hoffnungslosen, riesigen Gefaengnis, als im August 1984 erstmals GuerillakaempferInnen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Stellungen des tuerkischen Militaers angriffen und damit wieder einen Funken Hoffnung aufleben liessen. Die Befreiungsbewegung erhielt riesigen Zulauf, bis es Anfang der 90er Jahre zu einem regelrechten Volksaufstand in Nordwestkurdistan kam: die kurdische Intifada. Die Guerilla nahm Staedte ein und erklaerte sie zu befreiten Gebieten. Die Antwort der tuerkischen Militaers war die Ausweitung des Krieges auf die gesamte kurdische Zivilbevoelkerung. Tausende von Doerfern wurden zerstoert, um die Versorgung der Guerilla in den Bergen zu unterbinden. Tausende Oppositionelle wurden willkuerlich verhaftet, gefoltert oder getoetet.
Das GAP wird in den kurdischen Provinzen Gaziantep, Adiyaman, Urfa, Diyarbakir, Mardin und Siirt an der Grenze zu Syrien und Irak realisiert. Die Provinzen stehen seit 1978 ununterbrochen unter Ausnahmerecht. Viele Gebiete sind bis heute Hauptkampfgebiete, besonders das oestliche GAP-Gebiet und die sich anschliessende Botan-Region. Die GAP-Baustellen werden vom tuerkischen Staat militaerisch geschuetzt. Die Schweiz ist der mit Abstand groesste auslaendische Investor in das insgesamt 22 Staudaemme und 19 Kraftwerke umfassende Projekt. 1984 ermoeglichte sie mit ihrer Zustimmung zum Bau des 179 Meter hohen Atatuerk-Staudammes die Realisierung des Herzstueckes des GAP. IWF und Weltbank hatten sich naemlich davor gegen das Projekt ausgesprochen. Die oekologischen und zwischenstaatlichen Folgen seien unabschaetzbar. Mit dem GAP bekommt die Tuerkei die Kontrolle ueber die beiden groessten Fluesse des Nahen Ostens, Euphrat und Tigris, in ihre Haende. Damit kann sie den suedlichen Nachbarstaaten jederzeit das Wasser abstellen und diese so aussenpolitisch erpressen. So zum Beispiel Syrien, das bis vor kurzem noch die PKK unterstuetzte.
Aussenpolitische Grundsaetze der Schweiz: eine Entwicklung, welche die Menschen
und die Umwelt respektiert; friedliche, durch das Recht geregelte Beziehungen
zwischen den Staaten; Neutralitaet in zwischenstaatlichen Konflikten; Foerderung
von Demokratie und Menschenrechten. Mit der Gewaehrung der ERG's fuer das GAP
verstiess die Schweiz also einmal mehr trotz gegenteiliger Beteuerungen gegen
all ihre eigenen Grundsaetze, die seit der Nazigold-Debatte zum Standardrepertoire
aller Schweizer PolitikerInnen gehoeren. Auch mit 50 Jahren Abstand laesst sich
ueber die NS-Kollaboration nur isoliert reden. Wehe, wer da eine historische Kontinuitaet
bis nach Chile, Guatemala, Suedafrika und der Tuerkei sieht. "Wir SchweizerInnen"
wollen doch nicht TotengraeberInnen "unseres eigenen" Reichtums sein! Wie drueckte
es da doch der Konzernleiter der Novartis, Daniel Vasella, anlaesslich der EDA-Tagung
"Wirtschaft und Menschenrechte" so schoen aus: "Und dabei wollen wir Geld verdienen."
Aber eben, dass die Schweiz viel Dreck am Stecken hat und staendig neuer dazu
kommt, ist kalter Kaffee. Viel interessanter ist es doch, zu schauen, warum ein
Projekt, wie das GAP, in einer als unterentwickelt und instabil bezeichneten Region
gebaut wird. Das beim ERG-Entscheid angetoente "Laenderrisiko Tuerkei" laesst
den Schluss zu, dass es sich beim GAP kaum um einen pflegeleichten Goldesel handeln
kann. Dann doch schon eher um ein militaerstrategisches Projekt des NATO-Staates
Tuerkei gegen die suedlichen, arabischen Nachbarn und die KurdInnen, deren Befreiungsbewegung
mit rein militaerischen Mitteln nicht beizukommen ist.
Erste Plaene fuer eine Modernisierung/Industrialisierung des kurdischen Teils
der Tuerkei gibt es seit den 30er Jahren. Damals, zwischen 1925 und 1939 erfolgten
viele Aufstaende der kurdischen Bevoelkerung mit verschiedenen regionalen Schwerpunkten.
Die gesamte Aufstandsbewegung der BauernpartisanInnen wurde militaerisch vernichtet.
Zwei Millionen Menschen wurden ermordet. Hunderttausende wurden vor allem in die
Westtuerkei deportiert, wo sie schneller "tuerkisiert" werden sollten. Voelkermord,
ein Metier, das die kemalistische Tuerkei vom Osmanischen Reich nahtlos uebernahm.
Seit dem Genozid an den ArmenierInnen 1914 schwebt die Voelkermorddrohung naemlich
permanent ueber den in der Tuerkei lebenden Minderheiten.
Nach der Niederschlagung des Aufstandes von Dersim (1936-1939) entstanden Plaene
fuer den Bau von Wasserkraftwerken in diesem Gebiet. Diese wurden damals aber
nicht weiter verfolgt. Erst 1958 folgten weitere Untersuchungen. 1960 wurde vom
staatlichen Wasserbauamt (DSI) eine kleinere Ausgabe des GAP als "Unteres Euphrat-Projekt"
geplant. Doch erst Ende der 70er Jahre wurde mit der Umsetzung der Plaene begonnen.
In einer Zeit, als das erste mal seit den 30er Jahren wieder eine starke kurdische
Bewegung entstand. Der Bau von Wasserkraftwerken wurde der hochverschuldeten Tuerkei
auch vom IWF empfohlen, um die Importabhaengigkeit vom Erdoel (oelkrise 1973)
zu verringern und so Schulden abzubauen. Da sich aber die gesamten IWF-Auflagen
gegen die linken Mobilisierungen nicht durchsetzen liessen und die Tuerkei aus
der Sicht des "freien Westens" keinesfalls ein linkes Land werden durfte, putschten
am 12. September 1980 die tuerkischen Generaele in Absprache mit der NATO. Erst
unter dem brutalen Terror konnten die "Reformen" durchgesetzt werden. Innert kuerzester
Zeit wurden aus den Schubladen der Militaerdiktatur die Plaene fuer das GAP hervorgezaubert.
Wegen der Brutalitaet der faschistischen Junta hielten sich viele Staaten mit
Investitionen in der Tuerkei zurueck. Nicht so die Schweiz, die, wie oben schon
erwaehnt, mit der offiziellen staatlichen Unterstuetzung von ABB und Sulzer fuer
den Bau des Atatuerk-Staudammes die Tuerkei international bedeutend aufwertete.
Die Schweiz, die trotz gegenteiliger Realitaet, international den Ruf geniesst
(oder unterdessen besser "genoss"?), so demokratisch und menschenrechtskonform
zu sein.
Gehen wir noch einmal in die spaeten 20er und fruehen 30er Jahre zurueck, zum
Aufstand von Dersim. Der stark agrarisch-feudalistisch gepraegte kurdische Suedosten
war nicht der einzige Ort auf der Welt mit der gleichen sozio-oekonomischen Struktur,
der sich damals in Aufruhr befand. Ueberall erhoben sich baeuerliche Guerillabewegungen:
Vom fernen zum mittleren und nahen Osten, Suedosteuropa und die iberische Halbinsel,
bis nach Lateinamerika, wo beispielsweise ein gewisser Sandino in Nicaragua den
Yankees tuechtig einheizte. Es war der gleiche Kampfzyklus, ein Kampf, der der
eigentliche Ausloeser fuer die sogenannte "Weltwirtschaftskrise" in den 30ern
war. Gewinnbringende Investitionen in der Peripherie waren blockiert, fuer das
imperialistische Kapital nicht durchsetzbar. Es scheiterte am undurchdringbaren
Geflecht der peripheren Sozialstrukturen, die weitestgehend Selbstversorgung (Subsistenz)
betrieben. Einen Entwicklungsschub konnte es nur geben, wenn die baeuerlichen
Sozialstrukturen zerschlagen wurden, wie das der bolschewistische Entwicklungsrassismus
in der Sowjetunion in jener Zeit den imperialistischen Maechten vordemonstrierte:
Im Kampf gegen die sozialrevolutionaeren Baeuerinnen, Bauern und BauernarbeiterInnen
blieben Millionen Tote auf der Strecke. (Trotzki, der die Rote Armee aufbaute,
sprach in diesem Zusammenhang von den Baeuerinnen und Bauern als einer "kompakten
Masse von Heuschrecken".)
Die Zerschlagung laendlicher Subsistenz- und Solidarstrukturen war die Voraussetzung
fuer eine Rationalisierung der Landwirtschaft, die Millionen von Menschen zu "ueberfluessigen
Essern" machte. Die Menschen, die Subsistenzwirtschaft betreiben, moegen arm sein,
aber immerhin ist die Lebensmittelversorgung mehr oder weniger gesichert. Es gibt
ein Recht auf Existenz, wobei es allerdings die patriarchalische Auspraegung zu
bedenken ist. Dieses nicht zu idealisierende Existenzrecht gibt es im Kapitalismus
nicht mehr gibt. In den Augen des "Fortschrittes", egal ob tayloristisch/keynesianisch,
realsozialistisch oder nationalsozialistisch, galt die Subsistenzproduktion als
unproduktiv, ineffizient und rueckstaendig. Ziel des Fortschritts war die Zerstoerung
der kommunitaeren Dorfgemeinschaften, Erbsitten, Frauenmacht im Versorgungsgedanken
etc.
Zum Fortschritt zaehlten nicht nur irgendwelche Kapitalstrategen sondern ebenso
grosse Teile der Sozialdemokratie und der ArbeiterInnenklasse. Indem auch sie
technologischen -auch sozialtechnologischen und sozialhygienischen- Neuerungen
unkritisch, wenn nicht gar begeistert, gegenueberstanden, wurden sie ebenso zu
Traegern dieses Entwicklungsrassismus. Dieser identifizierte sich in seiner zivilisatorischen
Mission mit eben jenem technischen Fortschritt, der die Existenzberechtigung der
peripheren Sozialstrukturen an den metropolitanen Modernisierungsanforderungen
mass und bis heute misst (Materialien fuer einen neuen Antiimperialismus 5, Seite
63).
Nach der Vernichtung der ost- und suedosteuropaeischen Subsistenz durch den Nationalsozialismus, verfolgte das internationale Kapital nach 1945 unter der Fuehrung der USA dasselbe Ziel mit "zivilisatorischen Mitteln". Dass die US-Strategie von den Nazis abgekupfert war, sticht ins Auge: Organisierung der oekonomie in einem Grossraum mit Leitwaehrungsstruktur, internationaler Arbeitsteilung einer abhaengigen Entwicklung von Kapitalexport gegen Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte, erzwungene Komplementaritaet der Produktionsstruktur. Der Kern der nationalsozialistischen "Neuen Ordnung" fuer Europa wurde auf Weltniveau hochkopiert, was nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 auch global durchsetzbar geworden ist. Die durch die Grossraumrationalisierung "ueberfluessig" gewordenen Menschen wurden nach 1945 nicht mehr in Todesfabriken industriell ermordet, sondern ganz liberal sich selbst ueberlassen: Landflucht, Hungertod. Die "Gruene Revolution", der Durchbruch des Agrobusiness im Trikont, zerstoerte mit der Subsistenz die Nahrungssicherheit des Suedens. Weil die Bilder verhungernder Kinder im TV nicht so schoen anzugucken sind, wird seit laengerer Zeit mittels modernster Gen- und Reproduktionstechnologie versucht, den Genozid an der trikontinentalen Armutsbevoelkerung in den praenatalen Bereich vorzuverlagern. Diese Massnahmen treffen in erster Linie und fast ausschliesslich Frauen. So werden beispielsweise Nahrungsmittelhilfen fuer Hungernde von Sterilisationen abhaengig gemacht (siehe: Ingrid Strobl, strange fruit, 1991). Hier hinein passt natuerlich die heutige Situation auf dem indischen Subkontinent, die von Anti-WTO Gruppen oft thematisiert wird: hier gehen die endgueltige Durchdringung der indischen oekonomie durch das multinationale, hochtechnologisierte Agrobusiness und bevoelkerungspolitische Massnahmen Hand in Hand. Wenn zum Beispiel Reisfelder indischer BaeuerInnen von Multis zu Garnelenfarmen umfunktioniert, dabei die Boeden innert kuerzester Zeit versalzen und gleichzeitig in diesen Gebieten mit Entwicklungsgeldern Frauen sterilisiert werden, damit ihre Kinder nicht zu verhungern brauchen oder sich etwa gar gegen die Herrschaft der Multis zur Wehr setzen koennten.
Nach diesem wohl etwas verwirrlichen tour d'horizon durch schwindlige Theoriegefilde
zurueck zu den Millionen Kubikmeter Beton der GAP-Staudaemme und seinen Schweizer
Helfern.
Von den versprochenen 2,8 Millionen Arbeitsplaetzen werden die kurdischen Menschen
kaum in grossem Stil profitieren koennen. Aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus
kommen fuer die meisten von ihnen sowieso nur die schlechtbezahltesten und ausbeuterischsten
Arbeiten in Frage. Als ErntearbeiterInnen in der Harranebene zum Beispiel, die
durch das angestaute Wasser des Atatuerk-Staudammes bewaessert wird. Bis zu fuenf
Ernten erwarten die Propagan-distInnen des GAP in diesem Gebiet.
Eine hyperintensive Landwirtschaft mit entsprechenden oekologischen Folgen. Doch nicht nur die massive Anwendung von Pestiziden und Duengemitteln wird die Natur auf Dauer schaedigen, sondern vor allem auch die durch den Stausee aus dem Boden geloesten Mineralien, die sich in der Folge in den bewaesserten Flaechen ablagern werden und diese in einiger Zeit unfruchtbar machen. Ein trauriges Beispiel sind die heutigen Wuesten und ehemaligen Baumwollfelder in Usbekistan. Und auch wenn mehrere Ernten pro Jahr eingefahren werden sollten, den LandarbeiterInnen werden sie zuletzt zugute kommen. Bestimmt sind sie naemlich fuer den Export in den Nahen und Mittleren Osten, die Turkrepubliken, die Westtuerkei und nach Europa. Dafuer will die Tuerkei auch fuer die noetigen infrastrukturellen Verbesserungen im Verkehrs- und Transportnetz sorgen. So ist unter anderem eine Schnellstrasse in die Turkrepubliken der ehemaligen Sowjetunion geplant.
Auf die Turkrepubliken hat die Tuerkei schon seit laengerem, spaetestens seit
dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ein Auge geworfen. Damit wurden die grosstuerkischen
Traeume reaktiviert. Besonders aggressiv kam dies in den Drohungen gegen Armenien
zu Ausdruck, als die Tuerkei mit einem Kriegseintritt auf der Seite Aserbaidschans
drohte und glaubte verkuenden zu muessen, dass sich so etwas wie 1914 (der Voelkermord)
ohne Probleme wiederholen liesse. Aber es ist nicht nur die Verbundenheit mit
der tuerkischen "Rasse" (ein uebliches Wort im tuerkischen Diskurs), sondern wahrscheinlich
doch noch mehr die riesigen oel- und Erdgasvorkommen in diesen Gebieten. Der Streit
um die Ausbeutung dieser Ressourcen und ihr Transport auf den Weltmarkt (Pipelinefuehrung)
bilden den Hintergrund der Dutzenden von kriegerischen Auseinandersetzungen in
den letzten Jahren.
Die Option informelle, imperiale Ausdehnung in Richtung Osten wird um so staerker,
als sich die Tuerkei mehr von Europa abwendet, wie das aufgrund des Kurdistankonfliktes
und der Flucht Abdullah oecalans nach Rom einmal mehr deutlich wurde (u.a. Einfrieren
des EU-Beitrittsgesuches). Waehrend der Irak fuer seien ueberfall auf kuwaitische
oelbonzen fast in die Steinzeit zurueckgebombt wurde, kann sich der NATO-Staat
Tuerkei dies alles ohne Probleme erlauben. Die voelkerrechtswidrigen Militaerinvasionen
im Nordirak, die Einrichtung einer "Sicherheitszone" nach israelischem Vorbild
in suedkurdischem Gebiet, das Saebelrasseln gegenueber Syrien, wo es diesen Herbst
beinahe zum Krieg gekommen waere. Solange die Tuerkei als verlaengerter Arm der
geostrategischen Interessen des "Weltpolizisten" Nordamerika funktioniert, ist
das alles kein Problem.
Und wie es im Oktober gegenueber Syrien der Fall war, braucht die Tuerkei gar
nicht erst zum Krieg zu greifen, die alleinige Drohung der zweitgroessten NATO-Armee
reicht aus, um Gegner in die Knie zu zwingen. Doch nicht nur die Armee ist ein
solches Erpressungsinstrument, sondern auch das GAP. Wuerde die Tuerkei von ihrer
Moeglichkeit, dem Irak oder Syrien monatelang das Wasser abzustellen, Gebrauch
machen, koennte sie eine katastrophale Hungersnot ausloesen.
Versuchen wir zum Schluss noch einmal den Versuch, den Zusammenhang des GAP und der Schweiz noch etwas genauer herauszuschaelen. Wenn sich Schweizer Firmen Auftraege wie den Atatuerk- oder Ilisu-Staudamm uebernehmen, heisst das ja immer auch, dass Schweizer Arbeitsplaetze gesichert werden. Eines der drei Argumente des Bundesrates, warum der ERG stattgegeben wurde. Es stellt sich also die Frage der Komplizenschaft nicht nur der Schweizer Konzerne, wo sie relativ einfach zu denunzieren ist, sondern auch von Schweizer ArbeiterInnen oder - orthodox formuliert - des Schweizer Proletariats. Kann eine Politik, die sich auf Arbeitsplatzsicherung konzentriert und sich auf den herrschenden Arbeitsbegriff positiv bezieht, ueberhaupt emanzipatorisch oder gar revolutionaer sein? Grundsaetzlich kann mensch einwenden, dass Arbeit sowieso nichts Tolles ist, die nur unter dem Zwang, Geld verdienen zu muessen, ausgeuebt wird. Andererseits nimmt ein Schweizer Arbeiter oder eine Schweizer Arbeiterin in einer internationalen Arbeitsteilung, die immer auch ein technologisches Gefaelle in die Peripherie impliziert, ebenso grundsaetzlich eine privilegiertere Position ein als tuerkische oder kurdische ArbeiterInnen. In "autonomie-neue folge" wurde aus diesen ueberlegungen das Modell einer metropolitanen Kernarbeiterklasse entwickelt. Diese Klasse verfuegt ueber einen Deal mit den Herrschenden. Sei es die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft", der amerikanische "new deal" oder der sozialdemokratisch-keynesianistische, euro-paeische Sozialstaat. Ein imperialistischer Burgfriede fuer soziale Garantien, die mit den aus dem Sueden herausgepressten Werten bezahlt werden, "das sozialimperialistische Arrangement der metropolitanen Klasse mit dem Kapital" (Detlef Hartmann)? Und was bedeutet es, wenn diese Garantien im Zuge der herrschenden Krise abgebaut oder gar abgeschafft werden? Was heisst das fuer eine Solidaritaet mit denjenigen, die gar nie solche Garantien besessen haben, im Trikont oder als MigrantInnen hier?
(1) Dabei stuetzen wir uns auf Ueberlegungen, wie sie in "Autonomie 14" und den "Materialien fuer einen neuen Antiimperialismus" entwickelt wurden.
Literatur:
Autonomie - Materialien gegen die Fabrikgesellschaft - Neue Folge, Nummer 14, Klassengeschichte - Soziale Revolution, Hamburg 1985.
Materialien fuer einen neuen Antiimperialismus, Nummern 1 bis 5, Berlin 1988-1993
Ingrid Strobl, strange fruit: Bevoelkerungspolitik: Ideologien, Ziele, Methoden, Widerstand, Berlin/Amsterdam 1991.
Heidi Hinz-Karadeniz/Rainer Stoodt, Die Wasserfalle: Vom Krieg um oel zum Krieg um Wasser: Aufstieg und Fall eines Gross-projektes in Kurdistan, Giessen 1993.
Joerg Dietziker, Wasser als Waffe: Tuerkische Daemme und Schweizer Helfer: Die Bedeutung des Suedostanatolienprojektes GAP und die geplante Zerstoerung von Hasankeyf durch Sulzer Hydro und ABB Schweiz, Zuerich 1998.