INLAND



Das Buch zum Haus

Wer kennt sie nicht. Die Reithalle empfängt die Bahnreisenden, die von Osten her in den Berner Hauptbahnhof einfahren. Seit elf Jahren als autonomes Zentrum besetzt, ist in diesen Tagen «Reithalle Bern ? Autonomie und Kultur im Zentrum» erschienen. Ein AutorInnenkollektiv hat das Unterfangen gewagt, die Irrungen und Wirrungen in dem altehrwürdigen Gemäuer auf Papier festzuhalten.

Mit einem faktenreichen Text führt der WoZ-Journalist und langjährige Reithalleaktivist Johannes Wartenweiler in die Umstände des «Heissen Herbst» von 1987 ein. Noch einmal wird die bewegte Vorgeschichte der Besetzung detailliert nachgezeichnet. Es tauchen da Namen von längst aufgelösten Musikgruppen auf, die wohl bei manch einer LeserIn nostalgische Gefühle zu wecken vermögen. War es doch gerade die Alternativkultur und insbesondere unzählige Musikgruppen, die in den Monaten vor der Besetzung mit den regelmässig durchgeführten «Strafbars» ? kurzfristig angesagte Konzerte auf besetztem Gelände ? das Bedürfnis nach einem selbstverwalteten (Kultur)raum am augen- und ohrenfälligsten manifestierten. Nach der im selben Herbst erfolgten Räumung der Hüttensiedlung «Zaffaraya» und den darauffolgenden wochenlangen Massenprotesten war auch dem damals bürgerlichen Gemeinderat klar, dass die Reithalle nicht mehr verriegelt zu halten ist und der «Bewegung» endgültig überlassen werden muss.

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Mit der Raumnahme entwickelten sich entlang der architektonischen Vielfalt verschiedenste Aktivitäten, die sich nicht immer zu vertragen mochten. Michael Kaufmann, Gründungsmitglied des Fördervereins der Reithalle und ehemaliger Redaktionsleiter der «Berner Tagwacht», beschreibt den dialektischen Prozess von äusserer Gewalt, die er sinnbildlich am Brandanschlag vom Dezember 1990 festmacht und den «hausgemachten», nicht eben friedfertigen Auseinandersetzungen. Die mehrmalige Duldung von Polizeieinsätzen in und um die Reithalle zur Klärung interner Spannungen, zeigt für Kaufmann die «Gratwanderung zwischen System und Utopie», die ein permanenter Prozess darstelle und auch nach den erwähnten Abweichungen von der konsequenten Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols, die Reithalle nicht geschwächt habe.

Auslöser vieler gewalttätig ausgetragener Konflikte in der Reithalle war (und sind) der Handel mit Drogen. Ähnlich dem «Gewalt»-Kapitel wird auch hierzu in einem umfassenden Text auf die Ambivalenz im Umgang mit vom Staat als verbotenen Stoffen in einem autonomen Zentrum eingegangen. Das Bild der Reithalle als Insel in einer feindlichen Umwelt, gerät spätestens nach der Lektüre dieses eher ernüchternden Kapitels ins wanken.

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Wenn in «Reithalle Bern» über weite Strecken ein eher pessimistisches Bild abgegeben wird, so sind doch auch einige Lichtstreifen am Horizont auszumachen. Etwa wenn jeweils an Weihnachten bei ausgelassener Stimmung und Musik im Dachstock «das subkulturelle Nachspiel zum familiären Hauptakt» stattfindet, wie der Musiker und Journalist Christian Pauli in seinem Beitrag dieses alljährliche Ritual beschreibt. Gerade das Konzertlokal im Dachstock mit seiner warmen, holzlastigen Innenarchitektur ist der ideale Ort, um ein identitätsstiftendes «wir»-Gefühl hochleben zu lassen. Und nicht nur an Weihnachten. Egal ob im Kino, Frauenraum, Theater oder im Dachstock: immer wieder ist die grosse Familie aus dem grossen Dorf anzutreffen, sich selbst zelebrierend. Ein möchtegern-grossstädtisches Verhalten, das jeweils an dem begrenzten Radius des Publikums scheitert, scheitern muss. Alle kennen alle, irgendwie. Nur zu gern würde die LeserIn noch mehr über die Funktion als Begegnungszentrum im wahrsten Sinne des Wortes erfahren.

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Auch von anderer Seit erhält das soziale Experimentierfeld Support. Auffallend dabei ist, dass dieser praktisch ausschliesslich aus der Feder von Aussenstehenden kommt. Sowohl Michael Kaufmann, in seiner Rolle als Gründungs- und Aktivmitglied im Förderverein zwar einiges näher am Reithallenalltag, als auch Christoph Reichenau und Fredi Lerch finden bisweilen die schönsten Töne um den burgartigen Komplex auf der Schützenmatte zu würdigen. Der Subkultur-Experte und WoZ-Journalist Fredi Lerch unterzieht die Entwicklung der Reithalle einer quasi-wissenschaftlichen Untersuchung, und zeigt wie sich die Subkultur durch die Raumnahme zur Gegenkultur gefestigt hat.

Christof Reichenau, heute stellvertretender Direktor des Bundesamtes für Kultur und mehrjähriger Leiter der Verhandlungen zwischen der Stadt und der IKuR (Interessengemeinschaft Kulturraum Reithalle), hält in seiner Abhandlung ein Plädoyer für die Selbstverwaltung, die in der Reithalle seit Anbeginn praktiziert wird. Kein «Kurzer Sommer der Anarchie», nein: «Ich kenne keinen Ort, an dem über das, was gelten soll, so intensiv, konstant und konsequent nachgedacht, aber auch kollektiv diskutiert worden ist, wie in der Reitschule. Kein kurzer Sommer, kein langer Winter der Anarchie. Von Anbeginn eine bewusste Kul»ur der Selbstverwaltung.» Natürlich könnte man einwenden, dieses Bild entspreche kaum mehr der Realität. Doch zeigt es, dass sich die AktivistInnen oftmals selbst unterschätzen und das, was ihnen als Chaos erscheint aus einer gewissen Distanz durchaus positiv und als Beweis für eine weiterhin lebendige Streitkultur aufgenommen wird.

Nick Lüthi

«Reithalle Bern _ Autonomie und Kultur im Zentrum» ca. 200 Seiten ein Drittel illustriert mit alten Plakaten und Umschlägen der Hauszeitung «megafon» gebunden. Rotpunkt-Verlag, 38 Franken.




gefunden im vorwärts (Mai '98)