Eleutrio Fernandez "El Nato" Huidobro (1)
Was der Mitbegruender der uruguayischen Stadtguerilla "Tupamaros" hier formuliert, mag banal klingen: Weshalb von Neoliberalismus sprechen, wenn das Problem immer noch der Kapitalismus ist und vorlaeufig auch bleibt? Die Verwendung von Adjektiven um den Kapitalismus praeziser zu beschreiben, erweckt den Eindruck, dass es auch eine gutgemeinte, soziale, mit menschlichem Antlitz oder was auch immer fuer eine Herrschaft des Kapitals geben koennte. Die inflationaere Verwendung des Begriffes "Neoliberalismus" in den letzten zehn Jahren ist wohl das bezeichnendste Beispiel, wie ein Begriff dermassen ausgehoehlt wurde, bis er nur noch als Schlagwort fuer fast alle beliebigen Zwecke hinhalten kann und damit seine analytische Schaerfe verliert. Doch nicht nur auf der Ebene der Begriffe lauern solche verlockende Vereinfachungen. Das nachvollziehbare Beduerfnis klaren Widerspruechen in die Augen zu schauen, laesst oft naheliegende Ungereimtheiten in Vergessenheit geraten.
Ein Beispiel aus der juengeren Vergangenheit, inwiefern sogar PolitikerInnen gleicher Provenienz denselben Begriff um 180 Grad divergierend auslegen koennen, lieferte die Schweizer Sozialdemokratie im vergangenen Herbst. In seiner Antrittsrede
als neugewaehlter Praesident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes geisselte
der SP-Nationalrat Paul Rechsteiner den "Neoliberalismus" und wies auf die Anfaenge
seiner modellhaften Umsetzung in Chile nach dem Militaerputsch von 1973, sowie
auf seine "Leistungen" der vergangenen zwei Jahrzehnten hin. "Die neoliberale
Idee ist durch ihre Propagandisten in Politik und Medien ideologisch solide
verankert.", stellt Rechsteiner zurecht fest und meint damit nichts anderes,
als dass es gelungen ist, mit einer Terminologie der "faits accomplis" die Menschheit
glauben zu machen, dass es keine Alternativen zu einer nach wirtschaftlichen
Verwertbarkeitskriterien organisierten Gesellschaft gibt.
Nur zwei Wochen zuvor hatte Rechsteiners Parteikollegin und Praesidentin der
SPS, Ursula Koch, das Ende des "Neoliberalismus" heraufbeschworen und gleich
das Zeitalter der Sozialdemokratie angekuendigt: "Das Sozialdemokratische Jahrhundert
wird erst jetzt, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nach dem Scheitern
des Neoliberalismus kommen." Ein neokeynesianischer Sozialdemokratismus als
vernuenftiger Mittelweg zwischen den diskreditierten Extremen? Waehrend der
eine weiterhin zum Sturm blaest und eine Gefahr wittert, sieht die andere bereits
das goldene Zeitalter anbrechen. Diese unterschiedliche Verwendung zeigt, wie ein Begriff zu einer sinnentleerten
Worthuelse verkommen kann. Es ist ist sogar moeglich, dass PolitikerInnen, die
ein gemeinsames Projekt verfolgen, einen Begriff in entgegengesetzter Weise
verwenden.
Wer sich in Davos am Meeting des World Economic Forum in Davos tummelt, muss sich von seinen KritikerInnen gefallen lassen, als NeoliberalEr tituliert zu werden. Betrachtet man die TeilnehmerInnenlisten des Davoser Meetings der vergangenen Jahre, so traf sich in den Buendner Alpen tatsaechlich alles, was Rang und Namen hatte aus Politik und Wirtschaft. Und in einem trivialisierten Verstaendnis handelt es sich hierbei zweifelsohne um ApologetInnen des "Neoliberalismus". Fragt sich, welchen Nutzen die Subsumierung unter diesen Begriff hat. Zur Denunziation des politischen Gegners macht es keinen Unterschied, ob es nun "KapitalistInnen" oder "Neoliberale" sind. Der Zweck ist derselbe: Die Konstruktion einer moeglichst homogenen Gruppe, damit der politische Gegner trotz seiner Widerspruechlichkeit fassbar bleibt. Ob es nur um die Verwendung von Schlagworten geht, oder ob gleich gesamte Zusammenhaenge verklaert werden, macht keinen Unterschied. In beiden Faellen geht es darum, einem als "uebermaechtig" eingeschaetzten politischen Gegner entgegentreten zu wagen. Eine derartiges Phaenomen aus der juengsten Zeit ist etwa die Maer vom erfolgreichen
Nachdem die Verhandlungen ueber ein Multilaterales Abkommen ueber Investitionen
(MAI) bei der OECD sistiert wurden. Dieses Vertragswerk haette auslaendische Investoren
gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung geschuetzt, was de facto hiesse,
dass bestehende Sozialklauseln oder Umweltschutzauflagen aufgrund ihres "diskriminatorischen"
Charakter aufgehoben werden muessten, damit jeder Konzern ueberall zu gleichen
Bedingungen investieren kann. Nicht weiter erstaunlich und auch erfreulich, dass
sich gegen eine derartige Arroganz der 29 reichsten Nationen der Welt Widerstand
regte - und zwar weltweit. Wenn sich jetzt die verschiedenen Netzwerke, die massgeblich
an der oeffentlichmachung des Vertragstextes und der Sensibilisierung fuer die
zu erwartenden Auswirkungen eines MAI verantwortlich sind, sich auf die Schultern
klopfen und ihren Widerstand als ursaechlich fuer das vorlaeufige Scheitern der
Verhandlungen bei der OECD hinstellen, so entspricht dies kaum den realen Kraefteverhaeltnissen
und Interessenslagen.
Dass fuer das Scheitern der MAI-Verhandlungen primaer innerkapitalistische Widersprueche,
sowie die von linken wie auch rechten Gegner gezueckte nationalistische Karte
verantwortlich waren und der Widerstand von linken zivilgesellschaftlichen Organisationen
hoechstens einen Dynamisierungsprozess auszuloesen und zu beschleunigen vermochte,
wird geflissentlich verschwiegen. Es erstaunt um so mehr, wenn selbst in einer
renommierten gesellschaftskritischen Zeitung wie "Le Monde Diplomatique" unter
dem Titel "Wie das MAI zu Fall gebracht wurde", trotz einem knappen Hinweis auf
die zu erwartende Translozierung aehnlicher Vertragsverhandlungen in die WTO,
eine erfolgreiche Mobilisierung der Zivilgesellschaft herbeigeredet wird. Der
Synchronismus der erfolgreichen Basis-Mobilisierung und der massenhaft beantragten
Ausnahmeregelungen von den meisten OECD-Mitgliedslaendern in einem kuenftigen
MAI-Vertragswerk, kann kaum ueber die realen Machtverhaeltnisse hinwegtaeuschen.
Wenn schon auf die Verflechtung von Multinationalen Konzernen und Nationalstaaten
hingewiesen werden will, dann kann nicht ausgeblendet werden, dass es die verschiedensten
Moeglichkeiten und Orte gibt, die sistierten Verhandlungen wieder aufzunehmen.
So sind z.B. innerhalb des IWF Bestrebungen im Gange ueber eine Statutenaenderung
Investitionsliberaliserungen festzuschreiben.
Wie bereits am Beispiel der Verwendung des Begriffes "Neoliberalismus" beschrieben, ist auch bei der Kampagne gegen das MAI festzustellen, dass in den meisten kritischen Verlautbarungen stets und ausschliesslich der Vertrag der bei der OECD ausgehandelt wurde, gemeint ist. Die Fixierung auf ein einziges Projekt, ohne die Moeglichkeiten auszuleuchten, wo und in welchem Rahmen aehnliches geschehen koennte, war ein Defizit, das von Anfang an die Kampagne gegen das MAI begleitete. Deshalb nun auch die Heroisierung des vordergruendig erfolgreichen Widerstandes. In vielen linken Publikationen wird nun bereits Bilanz gezogen, obwohl eigentlich nicht einmal von einem ersten Etappensieg gesprochen werden kann. Doch das Beduerfnis eigene Erfolge zu konstruieren, ist bei einer schwachen Linken nachvollziehbar. Wenn dazu allerdings Hilfskonstruktionen, wie etwa die Naehe zu Verschwoerungstheorien bemueht werden, hinterlaesst dies einen unangenehmen Beigeschmack. Gerade im Zusammenhang mit den MAI-Verhandlungen bei der OECD wurde praktisch in jedem zweiten Satz betont, dass die zustaendigen Gremien geheim getagt haetten. Das Bild eines Elite-Klubs, der hinter verschlossenen Tueren ein Manifest zur Pluenderung der Welt ausarbeitet - welch ein verfaengliches Bild. Zum Hausieren bestens geeignet, um damit Politik zu betreiben, bleibt eine dermassen verzerrte Darstellung (2) untauglich bis gefaehrlich.
Zu jeder Kampagne gehoert quasi als integraler Bestandteil die Emporstilisierung
des Kampagneobjekts zum absolut "Boesen". Waehrend einiger Monaten ist dann
etwa die WTO boese, das MAI die Verkoerperung einer neoliberalen Verschwoerung,
oder wie im aktuellen Fall das World Economic Forum, ein Moerdertreff. Werden
jedoch die einzelnen Strukturen, Vertraege oder Organisationen aus einer nuechterneren
Distanz betrachtet, als aus der Hektik einer Kampagne, so erscheinen sie als
nichts anderes als die integralen Bau- und Bestandteile des globalen Kapitalismus.
"Die Verabsolutierung einzelner hegemonialer Projekte und die damit verbundenen
uebertriebenen Bedrohungsszenarien beguenstigen jedoch nicht nur eine kurzatmige,
ueberhitzte Kampagnenpolitik, sondern stehen auch einer theoretisch fundierten
Kapitalismuskritik im Wege." (3)
Wenn nun das World Economic Forum ebenfalls Objekt einer Kampagne wird, die
sich auf die gemachten Erfahrungen zu WTO und MAI stuetzen kann, so bleibt zu
hoffen, dass den bekannten Fallen, die ueberall lauern, nicht nur elegant ausgewichen
wird, sondern dass sie auch beim Namen genannt und als genauso "bekaempfungswuerdig"
wie das WEF selbst angeschaut werden. Denn ob das World Economic Forum nun eine
"neoliberale Lobbyagentur" oder ein informelles Treffen von KapitalistInnen,
PolitikerInnen und Kulturschaffenden ist, anhand konkreter Resultate und Auswirkungen,
die etwa in Davos ausgehandelt oder verkuendet wurden, laesst sich am besten
ablesen, wofuer die drei Buchstabe W, E, und F stehen. (4)
(1) In: analyse & kritik Nr. 400,13. März 1997
(2) "So wird z.B. in nahezu allen ihrer (gemeint ist hier die Soli-Bewegung, kann
aber genausogut fuer die Anti-MAI-Kampagne zutreffen) Veroeffentlichungen betont,
die MAI-Verhandlungen haetten bis 1997 "im Geheimen" bei der OECD stattgefunden.
De Facto fanden die Verhandlungen zunaechst schlichtweg in einem derart unbedeutenden
Unterausschuss der OECD statt dass sich kaum jemand dafuer interessierte - weder
die Oeffentlichkeit noch irgendwelche Regierungen. in: Jungle World, 4. Nov.
1998
(3) In: Jungle World, 4. Nov. 1998
(4) siehe z.B. Artikel "Das Suedostanatolienprojekt
GAP" Ein Diskussionsbeitrag zu Modernisierung als Aufstandsbekaempfung"